Die Fortsetzung von “Die Suche nach Marawit“ musste etwas auf ihre Veröffentlichung warten. Ich hatte sie zwar schon länger in der Schublade, doch ich musste zwischendurch mein Abitur schreiben 😉 Hoffentlich gefällt euch meine zweite Kurzgeschichte!
In der darauf folgenden Nacht, an einem weit entfernten Ort, lag ein Teich inmitten eines Birkenwaldes. Wenn man von oben hinabsah, konnte man das leichte Wogen des Teiches und zwei Glühwürmchen am Ufer beobachten. Sie kreisten über einem Busch mit saftigen roten Beeren. Plötzlich bewegte er sich, als hätte ihn jemand angestoßen, und die Glühwürmchen huschten zurück. Ein Fuchs kam heraus. Er leckte sein mit Beeren verschmiertes Maul ab und guckte hoch zu den Glühwürmchen, die jetzt weiterflogen. Der Fuchs folgte ihnen, fasziniert von dem Leuchten, und tappte leichtfüßig am Ufer entlang, etwas hinein in den Teich. Das Wasser floss leise über die kleinen Steine, die auf dem Grund des Teiches lagen. Hellgelbe und tiefblaue Steine lagen dicht beieinander, verstreut lugten auch blässlich orangene hervor. Der Fuchs aber beachtete sie nicht. Die Glühwürmchen flogen jetzt in die Mitte des Teiches, doch der Fuchs konnte ihnen nicht folgen. Zu tief war der Teich. Enttäuscht ging der Fuchs aus dem kalten Wasser, sonst froren noch seine Pfoten ein, dachte er. Er setzte sich und schaute auf den Teich.
Wieso war er nur den Glühwürmchen gefolgt? Schließlich war er kein Welpe mehr. Jung vielleicht, aber erwachsen war er trotzdem. Jetzt betrachtete er die Steine. Schön waren sie. Viele Male hatte er mit seinen älteren Geschwistern an Flüssen gespielt – wenn man das spielen nennen konnte. Er war lange zu klein, um mitzuspielen, und wenn er doch einmal durfte, diente er nur als Spielball. Die Erinnerung schmerzte ihn.
Der Fuchs schüttelte seinen Kopf, um ihn freizukriegen, und guckte weiter am Teich entlang. Das Wasser war klar und schimmerte hell im Mondlicht. Etwas anderes aber zog seine Aufmerksamkeit an. Der Fuchs sah wieder zu den Glühwürmchen, aber diesmal kreisten sie über einem großen Gegenstand am Ufer. Ein einziges Boot störte die Regelmäßigkeit der Steine.
Er stand auf und schlenderte zu dem Boot. Die Glühwürmchen beachtete er nicht mehr. Remus stand auf dem hölzernen Boot in geschwungenen weißen Buchstaben geschrieben. Es hatte die Größe eines kleinen Ruderbootes, zum Angeln wäre es gut geeignet. Nur leider konnten Füchse nicht rudern. Und auch nicht angeln.
Seit ein paar Tagen übernachtete der Fuchs am Teich, doch das Boot sah er zum ersten Mal. Wie war es nur dahin gekommen? Es gab hier keine Menschen in der Nähe, zumindest keine Jäger, die ihn erschießen wollten.
Er ging näher an das Boot heran, stützte sich mit seinen Vorderbeinen an der Kante ab und sah hinein. Ein Junge von vielleicht elf, zwölf Jahren schlief darin. Er hatte braunes Haar, ein rundes Gesicht und trug eine dreckige sandfarbene Hose, ein blaues T-Shirt und eine schwarze Jacke. Seine Arme und Beine waren merkwürdig angewinkelt, als wäre er eben erst hingefallen. Sein Kissen war ein Rucksack.
Behutsam trat der Fuchs auch mit den Hinterbeinen auf die Bootskante und bereitete sich auf einen Sprung vor. Kinder hatten doch immer etwas zu essen bei sich, oder nicht? Er sprang, doch die leise Landung misslang. Der Junge wachte auf und starrte den Fuchs mit müden Augen an. Der Fuchs richtete sich fluchend auf, denn sanft war die Landung auch nicht. „Nanu, wer bist denn du?“, fragte er.
Der Junge blickte sich um und guckte wieder zum Fuchs. „Ich weiß nicht“, sagte er. Eine Spur von Gleichgültigkeit lag in seiner Stimme. „Und wer bist du?“
Ein merkwürdiger Junge. „Mein Name ist Calepto. Aber du musst doch auch einen haben, oder nicht?“
Der Junge sah ins Leere und rieb sich die Stirn. Er hatte eine Beule am Haaransatz, er musste sich irgendwo gestoßen haben.
„Das ist ja auch egal“, sagte Calepto, obwohl es nicht stimmte. Wie konnte man nicht wissen, wer man war? „Ich wollte auch nicht stören, aber hast du vielleicht etwas zu essen für mich?“ Der Junge guckte fragend. „In dem Rucksack hinter dir, hast du da vielleicht ein paar Brote mit?“
Er drehte sich um und sah in den Rucksack. Suchend wühlte er darin rum und nahm schließlich eine metallene Dose heraus. Ein Apfel und ein paar Süßigkeiten waren darin. „Tut es der auch?“, fragte der Junge und wies auf den Apfel.
Der Apfel schmeckte gut, auch wenn er nichts Besonderes war. Immerhin besser als der Beerenbusch, in dem Calepto sich an den Ästen stach. Der Junge guckte ihn gedankenversunken an, während er fraß. Calepto bedankte sich, als er fertig war, und überlegte zu gehen. Doch er konnte nicht. Das Kind tat ihm leid. Er drehte sich zu ihm um und fragte ihn: „Weißt du wo du bist? Oder zumindest, wo deine Eltern sind?“
Kopfschütteln. Nein, der Junge war allein und hilflos. Calepto konnte nicht einfach weggehen und den Jungen im Stich lassen. Er wusste, wie es sich anfühlt. „Wie dem auch sei, du brauchst einen Namen. Wie soll ich dich sonst rufen?“
„Keine Ahnung, wie nennt ihr Füchse uns Menschen?“
Calepto lächelte verlegen. „Meistens einfach nur ‚Menschen‘, ab und zu auch ‚Schnelle Teufel‘. Aber du hast einen passenderen Namen verdient“, fügte er hinzu, als der Junge große Augen machte. Calepto kam ein Gedanke und guckte nochmal auf den Schriftzug. „Was hältst du von Remus? So steht es auf dem Boot.“
Der Junge lugte raus und las die weißen Buchstaben. „Vielleicht gehört es einem gewissen Remus. Menschen haben es so an sich, ihre Namen auf Besitztümer zu schreiben, um sie zu markieren.“
„Wenn du in diesem Boot liegst, sollte es doch dir gehören, oder nicht? Dann heißt du auch Remus“, stellte Calepto mit Genugtuung fest. „Dann hätten wir es geklärt. Möchtest du für diese Nacht noch in dem Boot schlafen, oder sollen wir uns im Wald ein gemütliches Plätzchen suchen?“
„Du bleibst bei mir?“, fragte Remus.
„Natürlich! Du glaubst doch nicht, dass ich einen einsamen Jungen wie dich hier alleine lasse? Gut, hier ist es nicht allzu bedrohlich, aber es wächst auch keine Zuckerwatte an Bäumen. Und abgesehen davon“, Calepto guckte dabei auf den Waldrand, „es wäre schön, einen Gesprächspartner zu haben.“
„Einverstanden“, sagte Remus lächelnd.
„Gut, dann sollten wir lieber an Land gehen. Mir wird schon schwindelig von dem ganzen Bootsschaukeln“, musste Calepto zugeben. „Wo ist denn das Ruder?“
Remus suchte nach dem Ruder, aber es war nicht da. „Das macht doch nichts, wir sind sowieso am Ufer.“
Während Calepto sich über das Ruderboot, das kein Ruder hatte, amüsierte, schleppte Remus es an Land und sie suchten eine Stelle im Wald, an der sie übernachten konnten. Schließlich fanden sie ein Plätzchen. Der Boden hatte ein paar Laubblätter, auf denen sich Calepto zum Schlafen zusammenrollte. Remus brauchte die Blätter nicht, ihm reichte der Rucksack als Kissen.
Der Himmel war sternenübersät. Wolken waren nicht zu sehen, als wären sie weggewischt. Dieser Moment schien perfekt zu sein, dachte Calepto. Er hatte keinen Hunger mehr, übernachtete bequem unter einem Baldachin aus Blättern und Sternen und hatte einen neuen Freund.
Remus war aber in Gedanken versunken. Wer bin ich?, fragte er sich erstmals selbst. Wer bin ich?